1.12.2021 - Aus Holz lässt sich eine Vielzahl von Materialien und Substanzen gewinnen. Die unter Federführung des BAFU erarbeitete Ressourcenpolitik Holz 2030 des Bundes will die Wertschöpfungskette stärken, um das ganze Potenzial der holzbasierten Produkte zu nutzen. So könnte ein wichtiges Ziel der Schweizer Politik in Griffweite rücken: der Wandel einer auf Erdöl setzenden Wirtschaft zu einer nachhaltigen Ökonomie, die auf erneuerbaren Rohstoffen beruht.
Text: Lucienne Rey
Das Picasso-Museum in Paris wird das 1955 entstandene Werk «Corrida» auch künftig in augenscheinlich unbeschadetem Zustand ausstellen können. Es verdankt dies einem aus Holz gewonnenen Material. Am Werk, das der spanische Künstler mit Filzstiften auf pergamentähnliches Papier gemalt hatte, waren nämlich Risse aufgetreten. Der Restaurator Rémy Dreyfuss-Deseigne vermochte diese Schäden mit mikrofibrillierter Cellulose (MFC) so zu stabilisieren, dass sie von blossem Auge nicht mehr zu erkennen sind. Wie die Erfahrungen des Restaurators mit MFC belegen, lassen sich sogar Schäden in feinstem Papier mit Hintergrundbeleuchtung oder in brüchig gewordenen Kinofilmen dank einer hauchdünnen MFC-Schicht nahezu vollständig beheben. MFC besteht aus Zellstoff, dessen grob zerkleinerte Faserbündel unter hohen Scherkräften ohne Zugabe jeglicher Zusatzstoffe voneinander getrennt werden. Dadurch entsteht eine Substanz aus Wasser und Cellulosefasern, die durch ihre vielseitigen Eigenschaften und die entsprechend mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten besticht. Zur Verfügung gestellt wird das Wundermittel von der Schweizer Firma Weidmann Fiber Technology in Rapperswil (SG).
Kunst, Küche und Kosmetik
Das Unternehmen Weidmann wurde 1877 als Pappenfabrik gegründet. Nach dem Ersten Weltkrieg drohte ihm der Bankrott. Rettung brachte eine Neuausrichtung auf Isolationsmaterialien für Elektrotransformatoren. Dabei kam dem Betrieb die Erfahrung bei der Papier- und Kartonherstellung zugute, denn die Isolation im Innern solcher Transformatoren – immerhin bis zu 40 Tonnen – wird aus Zellstoff hergestellt. Einige Elemente müssen einem hohen Druck standhalten. Sie bestehen aus aufeinandergeschichteten und zu Blöcken von bis zu 30 Zentimetern Dicke verleimten Zellstoffplatten. Als Klebstoff dient Polyester – ein Stoff, der zwar für die Umwelt weitgehend unbedenklich ist, aber doch Nachteile aufweist. «Bei der Weiterverarbeitung riecht er, und er erschwert das Recycling der Platten», erklärt Stefan Truniger, General Manager der Sparte Fiber Technology von Weidmann.
Eine Alternative zum Polyesterharz fand Weidmann mit der aus Holzzellstoff hergestellten MFC. Im Ausgangszustand handelt es sich um eine Art Gel. Je nachdem, wie der Trocknungsprozess abläuft, lassen sich daraus leichte, schwammartige Materialien, harte Formen oder dünne Folien herstellen. «Ein Gramm MFC hat die Oberfläche eines Volleyballfelds», veranschaulicht Stefan Truniger die Ergiebigkeit des natürlichen Gelbildners, der sich durch weitere Vorzüge auszeichnet: Er ist frei von Chemikalien und belastet die Umwelt in keiner Weise. Nicht weiter erstaunlich also, dass sich MFC bei der Restaurierung von Kunstwerken bewährt. Aufgrund ihres Aufbaus mit zahlreichen Hydroxylgruppen kann man die mikrofibrillierte Cellulose dank der sich ausbildenden starken Bindungen auch als wirkungsvollen Klebstoff einsetzen.
Die Lebensmittelindustrie nutzt MFC als Verdickungs- oder Bindemittel in Saucen, Scheibenkäse oder Pasta. Mit Blick auf Esswaren ist ebenfalls die Eignung von MFC für Verpackungen aller Art interessant: Die Dreikomponentenbecher für Joghurts liessen sich durch einen MFC-Becher ersetzen, und auch kompostierbare Kapseln für Kaffeeautomaten sowie sauerstoff- und fettundurchlässige Folien sind denkbar. Eine steile Karriere könnte MFC in der Kosmetikindustrie machen: «Sie eignet sich zum Eindicken von Salben aller Art und kann erdölbasierte Produkte ersetzen», erklärt Stefan Truniger. «Während sich Cremen mit konventionellen natürlichen Verdickern auf der Haut gerne schmierig anfühlen, ziehen solche mit MFC angenehm ein.» Zudem verursacht das Gel keine Umweltprobleme, wenn es beim Waschen ins Abwasser gerät.
Siebenmal mehr Wertschöpfung
Cellulose ist bei Weitem nicht das einzige Material, das sich aus Holz gewinnen lässt. Aus Lignin – neben Cellulose der Hauptinhaltsstoff von Holz – kann man beispielsweise Vanillin herstellen, und die in der Cellulose vorkommenden Mehrfachzucker dienen als Ausgangsmaterial für kalorienarme und zahnschonende Süssmittel. Viele Terpene aus dem Harz von Nadelbäumen sind medizinisch von Bedeutung, während phenolische Verbindungen wie Gerbstoffe oder Flavonoide unter anderem zur Abwehr von Mikroorganismen eingesetzt werden können. Verschiedene Baumarten produzieren in ihrem Holz auch Wachse und Fette.
Im Rahmen seines Aktionsplans Holz 2030 unterstützt das BAFU denn auch angewandte Forschungsprojekte, die auf eine umfassende Nutzung der wertvollen, erneuerbaren Ressource abzielen. Im Fokus der Förderperiode 2017 bis 2020 stand unter anderem die optimierte Kaskadennutzung. So wird die mehrfache Verwendung eines Rohstoffs über mehrere Stufen bezeichnet – in der Regel mit abnehmender Wertschöpfung entlang der verschiedenen Verwendungsarten. Holz sollte demnach zuerst als Baumaterial oder zur Herstellung von Möbeln eingesetzt werden; im nächsten Schritt fertigt man daraus Werkstoffe wie etwa Cellulose. Erst zum Schluss wird es als Brennstoff einer energetischen Nutzung zugeführt. Ökonomisch ist die Kaskadennutzung äusserst sinnvoll, denn die Schweizer Wald- und Holzbranche erwirtschaftet mit «der stofflichen Verwertung im Vergleich zur energetischen knapp siebenmal mehr Wertschöpfung und siebenmal mehr Arbeitsplätze», wie eine Studie von EBP und Interface im Jahr 2013 feststellte.
Damit jedoch die Kaskade funktioniert, braucht es eine lückenlose Wertschöpfungskette. «Konsequenterweise will die Ressourcenpolitik Holz 2030 vermehrt die ganze Kette stärken», unterstreicht Ulrike Pauli-Krafft von der BAFU-Sektion Holzwirtschaft und Waldwirtschaft und zuständig für den Schwerpunkt «Wertschöpfung Schweizer Holz» des Aktionsplans Holz 2021–2026. Der Fokus auf die gesamte Wertschöpfung bringt es mit sich, dass eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren am gleichen Strick ziehen müssen. Ergänzt wird der eine Schwerpunkt «Wertschöpfung Schweizer Holz» mit einem zweiten, überschrieben mit «Klimagerechtes Bauen». Entsprechend ist die Trägerschaft der Ressourcenpolitik Holz 2030 gegenüber vorangegangenen Versionen stark angewachsen, und zwar von drei auf sieben Bundesämter. «Hinter unseren Anliegen stehen drei Departemente», bringt es die BAFU-Expertin auf den Punkt.
An den Klimawandel denken
Wer mit Holz baut, trägt zu einer Reduktion des Ausstosses von Treibhausgasen bei. Zum einen ersetzt der klimaschonende Rohstoff energieintensive Materialien wie Stahl oder Beton, und zum anderen bleibt das im Holz gebundene Kohlendioxid über längere Zeit gespeichert. Die Ressourcenpolitik Holz 2030 des Bundes setzt denn auch mit dem Schwerpunkt «Klimagerechtes Bauen» auf die Qualitäten von Holz als leichtem und vielfältigem Baustoff. So bietet er sich für modulare und flexible Konstruktionen an, die den Ansprüchen einer individualisierten Gesellschaft gerecht werden. Und er eignet sich aufgrund seines geringen Gewichts, um bestehende Gebäude aufzustocken.
Die Ressourcenpolitik Holz 2030 trägt auch dem Umstand Rechnung, dass der Klimawandel die Artenzusammensetzung in unseren Wäldern verändert. Die Fichte – Lieferantin von Gebrauchsholz par excellence – gerät vielerorts unter Druck, während sich Laubbäume wie die Eiche stärker verbreiten. Es gilt also, Verwendungsmöglichkeiten für Laubholz zu finden. Die Firma Weidmann hat hier Pionierarbeit geleistet, indem sie im Rahmen des Aktionsplans Holz 2030 untersuchte, ob sich MFC aus Buchenholz gewinnen lässt. Wie das Ergebnis zeigt, eignet sich die einheimische Buche hervorragend für die Produktion mikrofibrillierter Cellulose und kann sogar einen Vorteil bei der Energieeffizienz ausspielen. Einziger Wermutstropfen, der die Freude an den Erkenntnissen aus der Machbarkeitsstudie trübt: In der Schweiz fehlt ein Unternehmen, das Zellstoff herstellt und somit direkten Nutzen aus dem Pilotversuch von Weidmann ziehen könnte. Auch für die Herstellung ihrer Zellstoffplatten muss die Firma Weidmann den Rohstoff aus dem Ausland importieren, obschon im Schweizer Wald jedes Jahr weit mehr Holz nachwächst, als geerntet und nachgefragt wird.
Die Lücke schliessen
«Seit der Schliessung der Firma Pavatex – eine Produzentin von hochwertigen Dämmstoffen – und der Cellulosefabrik Booregaard (früher Attisholz) 2008 fehlt in der Schweizer Wertschöpfungskette eine wichtige Produktionsstufe», hält Ulrike Pauli-Krafft vom BAFU fest. Dies führt dazu, dass Holzsortimente, die noch bis 2008 als Ressource für Zellstoff dienten, heute direkt als Energieträger verfeuert werden. Diesem suboptimalen Umgang mit der Ressource Holz liesse sich mit neuen Verwertungsschienen und dem Bau von kleineren Bioproduktewerken begegnen. Diese Option zeigt auch die Ressourcenpolitik Holz 2030 auf.
«Unsere Machbarkeitsstudie über die Fertigung von MFC aus Schweizer Buche zeigt, dass wir imstande sind, ein intelligentes Produkt aus Holz herzustellen», bestätigt Stefan Truniger von Weidmann. Aus seiner Sicht wäre ein Perspektivenwechsel bei der Suche nach Verwertungsmöglichkeiten für Holz sinnvoll: «Statt vom vorhandenen Holz auszugehen und uns zu fragen, was wir direkt daraus herstellen können, sollten wir vom Marktprodukt her denken und das dazu passende Werk entwerfen.» Im Idealfall würde eine solche Anlage zum Mittelpunkt eines Netzes von Zulieferern und Abnehmerinnen.
Die positiven Ergebnisse aus der Machbarkeitsstudie der Firma Weidmann zum Einsatz von Schweizer Buche bei der Herstellung von MFC dürften sowohl die Akteurinnen und Akteure in der Branche selbst als auch die öffentliche Hand in ihren Anstrengungen bestärken, die Lücke in der Wertschöpfungskette Holz zu schliessen.
Letzte Änderung 01.12.2021