BAFU-Direktorin Katrin Schneeberger und Martin Grosjean, Direktor des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung an der Universität Bern, sprechen im Doppelinterview über Rollentausch, wissensbasierte Entscheide und die Klimajugend.
Gespräch: Kaspar Meuli
Frau Schneeberger, Herr Grosjean. Sie haben beide Geografie an der Uni Bern studiert, verfügen also über einen sehr ähnlichen Hintergrund. Könnten Ihre Rollen heute auch vertauscht sein?
Katrin Schneeberger (KS): Ja, ich habe nach dem Studium selbst weiter wissenschaftlich gearbeitet. Als Postdoktorandin in England. Doch dann habe ich mich für einen Weg näher an der Politik entschieden. Und ich bereue es nicht.
Martin Grosjean (MG): Vom fachlichen Hintergrund her könnte ich mir auch vorstellen, das BAFU zu leiten. Was ich allerdings aus dem Alltag an einer Uni vermissen würde, wäre die Arbeit mit den Studierenden.
Wie würden Sie die unterschiedlichen Rollen von BAFU und Wissenschaft gegenseitig beschreiben?
KS: Für mich ist die Forschung dazu da, wissenschaftliche Grundlagen zu erarbeiten. Mit Methoden, die jederzeit nachvollziehbar und transparent sind. Die Wissenschaft soll Szenarien erarbeiten und aufzeigen, was geschieht, wenn wir etwas Bestimmtes tun oder unterlassen.
MG: Das BAFU als Teil der Bundesverwaltung ist dafür verantwortlich, dass die Vorgaben der Politik – sei es national oder international – umgesetzt werden. Ich denke dabei in unserem Kontext vor allem ans Klimaabkommen von Paris oder an das Biodiversitätsabkommen. Zudem sehe ich die Rolle des BAFU als die eines Advokaten für Umweltanliegen in den diversen nationalen Politiken, das geht natürlich nicht immer ohne Konflikte. Aber gerade in diesen Konfliktfeldern muss das BAFU die Fahne der Umwelt hochhalten.
Bei vielen drängenden Themen, von Corona bis zur Klimakrise, sind wissensbasierte Entscheidungen gefragt. Was verstehen Sie darunter, Herr Grosjean?
MG: Das wissensbasierte Entscheiden ist eine der grossen Errungenschaften der Aufklärung. Es geht um die Einsicht, dass wir mit unseren Entscheidungen die Zukunft beeinflussen. Dazu braucht es Systemwissen, Wissen darüber, wie zum Beispiel das Klimasystem funktioniert. Genau darin besteht unsere Aufgabe als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Wir sagen zum Beispiel, wie stark die Temperaturen ansteigen, wenn die Treibhausgasemissionen um so und so viel zunehmen. Und wir zeigen auf, was geschieht, wenn wir die Emissionen reduzieren. Wissensbasiert zu entscheiden heisst zu wissen, was geschieht, wenn wir so oder anders entscheiden.
Frau Schneeberger, gibt es für das BAFU auch andere Entscheidungsgrundlagen?
KS: Das BAFU entscheidet auf der Basis von wissenschaftlichen Grundlagen. Unsere Fachabteilungen, die sich auf Fachwissen stützen, sind unser Fundament. So viel ist klar. Aber wir müssen Entscheide auch abwägen und in einen grösseren Kontext stellen. Beim Vorbereiten von politischen Vorlagen müssen wir uns etwa überlegen, ob eine Massnahme sozial- und wirtschaftsverträglich ist. Oder wir müssen bedenken, was ein Zielwert für ländliche Regionen bedeutet und was für die Städte. Wir können uns also nicht ausschliesslich an den wissenschaftlichen Grundlagen orientieren.
Politik und Verwaltung hören nicht immer auf die Wissenschaft. Gibt es Situationen, in denen die Wissenschaft politisch unerwünschte Ergebnisse hervorbringt?
KS: Es gibt wissenschaftliche Ergebnisse, die unangenehm oder herausfordernd sein können, aber unerwünschte Ergebnisse gibt es nicht. Wenn man anfangen würde, so zu denken, würde das zu einer «Gefälligkeitswissenschaft» führen. Das wäre eine gefährliche Entwicklung.
Bei aller wissenschaftlichen Erkenntnis existieren immer auch Unsicherheiten. Wie geht man damit in Politik und Wissenschaft um?
KS: Der Klimabereich ist ein gutes Beispiel. Da werden Szenarien erarbeitet, die unterschiedlichste Eintretenswahrscheinlichkeiten haben. Wir stützen uns dann in unseren Überlegungen auf das wahrscheinlichste dieser Szenarien.
MG: Das Benennen von Unsicherheiten ist Teil der Wissenschaft. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang das Vorsorgeprinzip. Es besagt, dass wir handeln müssen, bevor die Unsicherheiten bis ins letzte Detail ausgeräumt sind. Das ist bei Umweltfragen absolut zentral.
Sie sind Direktor eines Klimaforschungszentrums, Herr Grosjean. Wird die Klimawissenschaft in der Schweiz von der Politik gehört? Und von der Verwaltung?
MG: Informell gibt es Kontakte, die sehr gut funktionieren. Die Wege in der Schweiz sind kurz, das ist ein Vorteil. In den 1990er-Jahren war die Schweiz in Europa beim Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Verwaltung führend. Damals wurde das OcCC gegründet, ein beratendes Organ für den Bundesrat für Fragen der Klimaänderung. Das hat zuerst ganz gut funktioniert, ist dann aber eingeschlafen. In letzter Zeit ist das Interesse am OcCC wieder erwacht. Das ist sehr positiv. Denn der formalisierte Austausch zwischen Politik, Verwaltung und Wissenschaft, bei dem man um einen Konsens ringt, ist extrem wertvoll.
Die Schweiz setzt auf eine mündige Stimmbevölkerung. Ist diese genügend informiert, um über die manchmal sehr komplexen Vorlagen abstimmen zu können?
KS: Viele Vorlagen, die heute zur Abstimmung gelangen, sind sehr komplex. Aber es darf nicht sein, dass Fachwissen nötig ist, um sich als Stimmbürgerin und Stimmbürger selbst ein Bild zu machen. Ich sehe es als Aufgabe der Verwaltung an, faktenbasiert und ausgewogen zu informieren und wenn nötig so zu vereinfachen, dass ein Thema für die breite Bevölkerung verständlich ist.
Herr Grosjean, ist es überhaupt möglich, klimatische Zusammenhänge so zu vereinfachen, dass an der Urne alle wissen, worum es geht?
MG: Ja, davon bin ich überzeugt. Deshalb engagieren sich ja auch viele Klimaforschende landauf, landab mit öffentlichen Vorträgen und Auftritten in den Medien. Umfragen zeigen denn auch, dass die Schweizer Bevölkerung bei Klimafragen extrem gut informiert ist.
Auswirkungen des Klimawandels auf die Schweizer Gewässer
Hydrologie, Gewässerökologie und Wasserwirtschaft. 2021
Die wissenschaftlichen Fakten zum Klimawandel sind seit Langem bekannt. Warum ist der Schritt vom Wissen zum Handeln so schwer?
MG: Ein Problem ist, dass die Politik sehr kurzfristig denkt – und viele Unternehmen noch viel kurzfristiger. Bei der Klimapolitik aber muss man langfristig denken, zum Beispiel bei Fragen zum technologischen Wandel. Es braucht Jahrzehnte, bis neue Technologien entwickelt und implementiert sind. Und dieser Wandel findet nicht im luftleeren Raum statt, dazu braucht es Rahmenbedingungen, welche die Politik setzen muss ...
KS: ... da muss ich Ihnen widersprechen. Mit dem Ziel «Netto null 2050» stehen wir doch genau an dem Punkt, wo die Langfristigkeit sehr fassbar wird. Die Folgen des Klimawandels werden nicht irgendwann zum Problem, sondern sie betreffen die nächste und übernächste Generation, unsere Kinder und Enkelkinder. Das ist sehr konkret. Genau deshalb wächst nun auch der Druck zum Handeln.
MG: Bedenkt man, was es braucht, um unsere Treibhausgasemissionen bis 2030 zu halbieren und bis 2050 auf netto null zu senken, sind dazu harte Veränderungen nötig. Politik und Wirtschaft haben es verschlafen, bereits vor 30 Jahren eine sanfte, gesellschafts- und wirtschaftsverträgliche Wende einzuleiten.
KS: Ich würde nicht davon sprechen, dass es «harte» Änderungen braucht. Erforderlich ist ein rasches, aber ein schrittweises Vorgehen. Der Bundesrat steckt in seiner langfristigen Klimastrategie bereits die Ziele bis 2050 ab, wobei die Massnahmen noch festzulegen sein werden. Wir müssen nicht Ängste vor Veränderungen schüren, sondern der Bevölkerung zeigen, dass der Wandel machbar ist.
Die Klimajugend drängt auf Tempo bei der Klimapolitik. Frau Schneeberger, ist dieser Druck aus der Zivilgesellschaft oder auch der Wahlerfolg der Grünen eine Schützenhilfe für eine griffige Klima- und Umweltpolitik?
KS: Der Wahlerfolg der Grünen spiegelt sich in der Zusammensetzung des Parlaments wider. Eine Schützenhilfe wäre für uns, wenn sich im Parlament Mehrheiten zugunsten der Umweltthemen verschieben. Das wird sich zeigen.
Wie wirken sich die gesellschaftlichen und politischen Strömungen auf die Wissenschaft aus, Herr Grosjean?
MG: Die Wissenschaft ist im öffentlichen Diskurs relativ zurückhaltend – wenn es um Politik geht, nicht, was die Fakten betrifft. Die Klimajugend macht basierend auf diesen Fakten Politik und wurde zu einer politischen Kraft. Ich sehe das als hervorragendes Beispiel für eine gute Rollenteilung.
Frau Schneeberger, das BAFU ist nicht nur an der allgemeinen wissenschaftlichen Entwicklung interessiert, es gibt auch ganz spezifische Studien in Auftrag. Weshalb?
KS: Gelegentlich sind wir auf zusätzliche angewandte Forschung angewiesen, um bestimmte Wissenslücken zu stopfen. Sogenannte Ressortforschung. Darin investieren wir ansehnliche Summen.
Und wie wichtig, Herr Grosjean, ist das BAFU für die Forschung?
MG: Gerade für junge Forschende sind Arbeiten mit einem konkreten Nutzen attraktiv. Wir sind deshalb sehr offen für Forschung, die in einem realen Kontext stattfindet. Wichtig erscheint mir auch, dass das BAFU zentrale Aufgaben in der Umweltbeobachtung erfüllt. Von der Öffentlichkeit wird das viel zu wenig wahrgenommen. Ich denke zum Beispiel an das hydrologische Messnetz. Dass eine Institution wie das BAFU über einen sehr langen Zeitraum kontinuierlich Daten sammelt, sie aufbereitet und zugänglich macht, ist für die Forschung von unschätzbarem Wert ...
...Sie winden dem BAFU ein Kränzchen. Wie steht es mit Kritik?
MG: Klar würden wir Wissenschafter und Wissenschafterinnen uns manchmal wünschen, dass sich das BAFU stärker aus dem Fenster lehnt. Aber wir wissen auch, wie schwierig seine Rolle ist. Die Konfliktfelder, in denen es sich bewegt, sind uns sehr wohl bewusst.
Weiterführende Informationen
Letzte Änderung 01.09.2021